Alter schützt vor Weitsichtigkeit nicht
Ich bin zwar ein ganzes Eck jünger aber merke auch meinen unvermeidbaren Weg in das Land der alten Säcke.
Es ist mir vergönnt mit Menschen zu sprechen die 20 Jahre jünger sind und es überrascht immer wieder, wie sich bereits die andere Alterssozialisation bemerkbar macht.
Zum Beispiel wieviele historische Ereignisse man selbst als Zeitzeuge erlebt hat. Diese Leute können dadurch vieles nicht in Perspektive setzen.
Ein gutes Beispiel ist die absolute Erbärmlichkeit Osteuropas im Vergleich zum Westen in der Zeit des Kalten Krieges. Was damals für uns augenscheinlich war, verschwimmt mit der Zeit. Alte Aufnahmen vom Mauerfall geben diese Kluft nicht mehr wieder, weil heute auf den historischen Aufnahmen alles "alt" aussieht.
Aus der Perspektive eines Menschen der um 2000 geboren ist sieht also die DDR wie eine weniger freie aber dafür "sozial gerechtere" Gesellschaft aus. Die dümmlichen Kapitalismuskritischen Phrasen kommen exakt daher.
Man merkt das eigene Alter auch an den veränderten Werthaltungen und sozialen Verhaltensmustern. Die Konfliktscheue, der Hang zu Regeltreue und eine verinnerlichte Verbotskultur. Auch der Unwille Dinge von mehreren Standpunkten durchzudenken.
Eine weitere Komponente ist die viel stärkere Moralisierung des Denkens was mit einer erschreckenden Humorlosigkeit einhergeht.
Auch das Vermeiden von Konflikten und Konfrontation wird höher bewertet, als das Ansprechen von Wahrheit. Lieber zensieren als streiten und vor allem die völlige Unmöglichkeit Ansichten und Sympathien zu trennen.
Ebenso ein viel stärkerer Hang zu Klassismus und sozialer Selektion. Ich habe den Eindruck Menschen die 20 Jahre jünger sind, kommunizieren kaum noch außerhalb ihrer Peergroup.
Auch bei Aufmerksamkeitsspannen merkt man ganz stark die Konsumation von sozialen Medien ab Kindesbeinen.
Ebenso habe ich den Eindruck dass unsere Allgemeinbildung höher war. Ich bin nach wie vor entsetzt, dass meine Kinder keinerlei relevanten Literaturunterricht, Kunst oder Musikunterricht mehr in der Schule genießen. Alles was diesbezüglich vorhanden ist, kommt von daheim.
Diese Veränderungen zu beobachten ist spannend und es fällt mir schwer zu beurteilen, was davon tatsächliche Verfallserscheinungen und was einfach berechtigte Neuerungen und notwendige Anpassungen sind die man als alter Sack einfach nicht mehr begreift.